Mit der Überarbeitung der Erklärung zur genossenschaftlichen Identität hat die Internationale Genossenschaftsallianz (International Cooperative Alliance, ICA) einen Prozess angestoßen, der weltweit große Aufmerksamkeit innerhalb der Genossenschaftsbewegung erfährt. Der vom ICA vorgelegte zweite Diskussionsentwurf zu Werten und Prinzipien war Anlass für den Zentralverband deutscher Konsumgenossenschaften e. V. (ZdK), einen eigenen, vertieften Diskussionsprozess zu organisieren und auf dieser Grundlage eine fundierte Stellungnahme zu erarbeiten und an die ICA zu übermitteln.

Im Mittelpunkt dieses Prozesses stand weniger die Frage, ob eine sprachliche Weiterentwicklung sinnvoll ist – darüber bestand weitgehend Einigkeit –, sondern vielmehr wie Änderungen ausgestaltet sein müssen, um den unterschiedlichen rechtlichen, kulturellen und praktischen Rahmenbedingungen von Genossenschaften weltweit gerecht zu werden.
Der Diskussionsprozess im ZdK
Der ZdK hat den zweiten Entwurf der ICA zum Anlass genommen, ihn systematisch und praxisnah zu diskutieren. Ziel war es, die Perspektiven von Genossenschaften ebenso einzubeziehen wie wissenschaftliche Einschätzungen zur Genossenschaftstheorie und zum deutschen Genossenschaftsrecht.
Nach einer ersten Diskussion auf dem Bar-Camp von #Geno-Digital in Leipzig, wurden vier Online-Diskussionsveranstaltungen als fachliche Austauschrunden mit Praktikerinnen und Praktikern aus Mitgliedsgenossenschaften, und mit Vertreterinnen und Vertretern der Genossenschaftswissenschaft durchgeführt. Den Abschluss bildete eine World-Café-Diskussion im Rahmen der gemeinsamen Veranstaltung mit dem Bundesverein zur Förderung des Genossenschaftsgedankens.
Diese Formate ermöglichten einen offenen Austausch über Chancen, Risiken und mögliche Folgewirkungen der vorgeschlagenen Änderungen. Deutlich wurde dabei, dass die Bewertung des zweiten Entwurfs stark davon abhängt, aus welcher nationalen und rechtlichen Perspektive heraus argumentiert wird.
Grundsätzliche Einordnung des zweiten Entwurfs
Ein zentrales Ergebnis des Diskussionsprozesses ist die grundsätzliche Unterstützung des Ziels, die Sprache der Werte und Prinzipien zu modernisieren. Viele Teilnehmende bestätigten, dass die bisherige Fassung aus dem Jahr 1995 sprachlich und begrifflich an einigen Stellen nicht mehr den heutigen Debatten über Nachhaltigkeit, Verantwortung und Partizipation entspricht.
Gleichzeitig wurde aber sehr deutlich, dass die genossenschaftlichen Werte und Prinzipien keine bloßen Leitbilder, sondern in vielen Ländern rechtlich hoch relevante Bezugspunkte sind. In Teilen der Welt sind sie unmittelbar in nationale Gesetze integriert oder werden von Gerichten und Behörden als verbindliche Auslegungshilfe herangezogen. Jede Änderung – selbst eine scheinbar kleine sprachliche Präzisierung – kann daher erhebliche rechtliche Konsequenzen nach sich ziehen.
Vor diesem Hintergrund war eine der zentralen Leitfragen des ZdK-Diskussionsprozesses:
Wie kann eine Weiterentwicklung der Texte gelingen, ohne unbeabsichtigte rechtliche oder praktische Folgen auszulösen?
Zentrale Ergebnisse und Positionen aus der ZdK-Stellungnahme
1. Sorgfalt und Zurückhaltung bei Änderungen
Ein besonders wichtiger Punkt der Stellungnahme ist der Hinweis auf die Notwendigkeit größtmöglicher Sorgfalt. Innerhalb des internationalen Konsultationsprozesses gibt es auch Stellungnahmen, die den zweiten Entwurf insgesamt sehr kritisch sehen. Diese Kritik speist sich vor allem aus der Sorge, dass Änderungen an den Prinzipien bestehende nationale Regelungen destabilisieren oder neue Auslegungsprobleme schaffen könnten.
Der ZdK teilt diese Sensibilität ausdrücklich. Änderungen an den Werten und Prinzipien müssen nicht nur gut begründet, sondern auch in ihren möglichen Wirkungen durchdacht werden. Dies gilt insbesondere für Länder, in denen Genossenschaften auf die Stabilität und Verlässlichkeit der Prinzipien angewiesen sind, um rechtliche Sicherheit zu gewährleisten.
2. Mehr Flexibilität – ohne den Kern der Prinzipien aufzugeben
Gleichzeitig hat der Diskussionsprozess gezeigt, dass sich die Praxis der Genossenschaften weiterentwickelt hat. Neue Organisationsformen, digitale Geschäftsmodelle, Multi-Stakeholder-Genossenschaften oder differenzierte Beteiligungsmodelle sind Realität – auch in Deutschland.
Vor diesem Hintergrund spricht sich der ZdK dafür aus, die Prinzipien so zu formulieren, dass sie den Genossenschaften mehr Flexibilität bei der konkreten Ausgestaltung ihrer Organisation ermöglichen. Diese Flexibilität darf jedoch nicht zulasten des bewährten Kerns gehen. Die Grundprinzipien – Selbsthilfe, demokratische Kontrolle, Mitgliederförderung, Eigenverantwortung und Solidarität – haben sich über Generationen hinweg bewährt und bilden das unverwechselbare Profil der Genossenschaft gegenüber anderen Unternehmensformen.
Die Weiterentwicklung sollte daher als Rahmenformulierung verstanden werden, innerhalb derer Genossenschaften ihre Strukturen selbst bestimmen können – nicht als detaillierte Vorgabe für „richtige“ Organisationsmodelle.
3. Mitgliedschaft und Offenheit: Differenzierung statt Absolutheit
Besonders intensiv wurde im ZdK-Diskussionsprozess das erste Prinzip zur freiwilligen und offenen Mitgliedschaft diskutiert. Die Zusammenfassung von Diskriminierungsverboten zu einer allgemeinen Formulierung wird grundsätzlich begrüßt. Zugleich wurde darauf hingewiesen, dass Genossenschaften – insbesondere kleine, gemeinschaftlich geprägte Organisationen – weiterhin die Möglichkeit haben müssen, Mitgliedschaftsregeln in ihren Satzungen selbst festzulegen.
Offenheit darf nicht mit einem automatischen Rechtsanspruch auf Mitgliedschaft gleichgesetzt werden. Vielmehr braucht es Raum für genossenschaftliche Selbstorganisation und für Entscheidungen, die das Funktionieren der Gemeinschaft sichern.
4. Demokratische Kontrolle und neue Beteiligungsmodelle
Auch das zweite Prinzip zur demokratischen Mitgliederkontrolle wurde differenziert betrachtet. Der Grundsatz „ein Mitglied – eine Stimme“ wird als zentraler Kern der genossenschaftlichen Idee ausdrücklich bekräftigt. Gleichzeitig wurde im Diskussionsprozess deutlich, dass es in der Praxis legitime Modelle gibt, in denen Stimmrechte differenziert ausgestaltet werden – etwa in Multi-Stakeholder-Genossenschaften oder bei investierenden Mitgliedern ohne Nutzungsinteresse.
Der ZdK spricht sich daher dafür aus, solche Modelle im Rahmen der Prinzipien nicht auszuschließen, sondern klar als von den Mitgliedern selbst gestaltete Ausnahmen einzuordnen.
5. Engagement für die Gemeinschaft – Chancen und Grenzen
Das siebte Prinzip zum Engagement für die Gemeinschaft war einer der am intensivsten diskutierten Punkte. Viele Teilnehmende sehen darin die Chance, die gesellschaftliche Wirkung von Genossenschaften sichtbarer zu machen und ihre Rolle bei nachhaltiger Entwicklung zu unterstreichen.
Zugleich wurde betont, dass dieses Engagement freiwillig bleiben und stets auf Entscheidungen der Mitglieder zurückgeführt werden muss. Aus deutscher Sicht ist es wichtig, dass die Mitgliederförderung weiterhin den Kern des genossenschaftlichen Zwecks bildet und gesellschaftliche Wirkungen vor allem mittelbar über verantwortungsvolle Geschäftspraktiken entstehen.
Fazit: Ein konstruktiver Beitrag zur internationalen Debatte
Der vom ZdK organisierte Diskussionsprozess hat gezeigt, wie vielschichtig und anspruchsvoll die Weiterentwicklung der genossenschaftlichen Werte und Prinzipien ist. Die erarbeitete Stellungnahme versteht sich als konstruktiver Beitrag zu einer internationalen Debatte, die unterschiedliche rechtliche Traditionen und praktische Erfahrungen zusammenführen muss.
Der ZdK begrüßt ausdrücklich, dass die ICA diesen offenen Konsultationsprozess ermöglicht hat, und wird sich auch weiterhin aktiv in die Diskussion einbringen. Mit Spannung wird nun erwartet, wie die Rückmeldungen aus aller Welt in einen dritten Entwurf einfließen werden.
Klar ist bereits jetzt: Die genossenschaftlichen Werte und Prinzipien bleiben auch in ihrer weiterentwickelten Form das stabile Fundament einer Unternehmensform, die seit über 150 Jahren wirtschaftliche Leistungsfähigkeit mit demokratischer Teilhabe verbindet – und damit aktueller ist denn je.
Hier finden Sie die -englische- Stellungnahme des ZdK zur Ansicht und zum Download:
